Interview #freiundgleich

Sabine Dreßler, Oberkirchenrätin und Referentin für Menschenrechte, Migration und Integration der EKD fragt Ulrike Willberg und Hartmut El Kurdi für #freiundgleich

In Artikel 27 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zur Freiheit des Kulturlebens heißt es: „Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen“ – wie versteht Ihr Euch und Eure Arbeit als Kulturschaffende?

Ulrike: „Jede und jeder hat das Recht am kulturellen Leben teilzunehmen“ – aber leider nicht die Möglichkeit. Solange nicht alle Kinder die gleichen Bildungschancen haben, solange nicht alle Menschen Zugang zu allen Bereichen des öffentlichen Lebens haben, besteht dieses Recht nur theoretisch. Die Praxis sieht anders aus.

Hartmut: Ich denke auch: Ein formuliertes Recht ist schön und gut. Die Politik ebenso wie alle gesellschaftlichen und kulturellen Institutionen haben aber die Aufgabe, die Möglichkeiten zu schaffen, damit dieses Recht auch wahrgenommen werden kann. Und dabei geht es einerseits, wie gesagt, um Bildungschancen, aber auch um Inhalte und Repräsentation von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Ich will nur ein Beispiel nennen: Solange in der Kinderliteratur die Lebenswelten von Migrantenkindern nicht oder bestenfalls am Rande vorkommen und es kaum Autor*innen gibt, die selbst eine familiäre Migrationsgeschichte haben, werden viele Kinder aus solchen Familien sich nur begrenzt angesprochen fühlen. Sowohl als Leser*innen wie auch als mögliche spätere Künstler*innen. Und das ist leider ein Teufelskreis.

Ihr seid zum Teil gemeinsam unterwegs, zum Beispiel mit der „Agentur für Weltverbesserungspläne“, habt aber Eure eigenen Schwerpunkte, Du, Ulrike, als Regisseurin und Konzeptentwicklerin, Du, Hartmut, als Autor, Performer und Musiker. Wie kann Kultur die Welt verändern, verbessern?

Ulrike: Kunst ist in der Lage sowohl die Rolle eines Seismographen wie auch die der Opposition einzunehmen. Wunde Punkte der Gesellschaft können aufgespürt und aus ungewohnten neuen Blickwinkeln betrachtet und bearbeitet werden. Kunst kann zumindest versuchen, mit ihren Mitteln gesellschaftlichen Einfluss auszuüben. Außerdem erfüllt man als Künstlerin oft nicht die gesellschaftlichen Normen und ist dadurch manchmal sensibilisierter für Themen und Menschen, die von der Mehrheit ignoriert werden.

Hartmut: Obwohl ich der Meinung bin, dass Kunst immer auch unterhalten sollte, reicht mir das alleine auch nicht. Kunst muss sich wehren, sich einsetzen für Schwache, Mut machen, auf Missstände hinweisen… Es ist immer schwierig für andere und allgemein zu sprechen, aber ich denke, wir sind auch Künstler*innen geworden, weil wir mit der Welt, so wie sie ist, nicht zufrieden sind. Wieviel Einfluss man wirklich hat? Keine Ahnung. Da gehe ich einfach mal egozentrisch von mir aus: Auf mich und mein Denken hatten – auch politisch – Bücher, Filme, Theater und Musik immer mehr Einfluss als trockene Theorien. Kunst hat einen eigenen Blickwinkel. Oft auch mehrere Perspektiven. Und sollte trotzdem einen Position beziehen.

Das Corona-Virus legt vieles gerade komplett lahm – was bedeutet das für Eure aktuelle Arbeit, welche Themen sind für Euch jetzt dran, und welche Formate überhaupt möglich?

Ulrike: Gerade ist es nicht möglich live vor Publikum zu spielen. Und auch wenn es sehr schwierig für die berufliche, persönliche und finanzielle Situation ist, sollte man im Sinne des Gemeinwohles respektvoll und umsichtig handeln. Wir werden die Entwicklungen beobachten und reagieren. Erstmal sind alle Produktionen auf das nächste Jahr verschoben. Thematisch arbeiten wir im Rahmen der Kesselhausinszenierung auf dem „Faust“-Gelände in Hannover an einem neuen gesellschaftlichen Narrativ: Eine feministische, ökologische, soziale und antirassistische Erzählung. Und die könnte man ja jetzt generell gesellschaftlich mal angehen.

Hartmut: Als Autor kann ich natürlich weiter schreiben, fragt sich bloß für was, wann und wen. Dazu kommt: Da ich den Hauptteil meiner Einnahmen durch Theatertantiemen und Auftritte beziehe, verdiene ich kaum was. Die Theater sind dicht, meine Stücke werden nicht gespielt, ich selbst kann auch nicht auftreten, nicht als Schauspieler, nicht als Musiker oder als Vorleser meiner eigenen Texte. Das finanzielle ist aber nur das eine Problem. Ich habe immer für die Bühne geschrieben und bin selbst auf die Bühne gegangen, weil das ein sehr direkter und – im Vergleich z.B. zum Film – „einfacher“ Kunstvorgang ist. Im Notfall brauchst Du nur eine Idee, einen Text, ein, zwei Schauspieler*innen und einen Ort, wo sich Spieler*innen und Zuschauer*innen treffen können. Diese Option ist jetzt erstmal weg. Jetzt kann man täglich etwas ins Internet blasen, was als Form nicht per se uninteressant ist, aber halt was anderes. Nicht unsere eigentliche Kernkompetenz.

Eine Kultur der Teilhabe aller – wie sieht Eure Vision dafür aus und wie lässt sich die erreichen?

Ulrike: Die Agentur für Weltverbesserungspläne sucht immer wieder nach Kunstformaten, die ein breites Publikum ansprechen könnten, die durch partizipative Momente die Berührungsängste gegenüber der Kunst nehmen. Wir können und wollen es uns nicht leisten zu warten, bis jemand kommt. Wir suchen unser Publikum aktiv. Und wir wollen, dass die Menschen bei uns formal und inhaltlich etwas erleben, dass sich von dem, was im tradierten Kulturbetrieb passiert, unterscheidet. Kunst sollte Spaß machen, neue Welten eröffnen und demokratisch sein.

Hartmut: Ich finde es bedauerlich, dass das Bildungsbürgertum, also die gebildete Mittelschicht, die (noch) in die Theater geht, Bücher kauft etc. Kultur oft als Mittel sieht, um sich von anderen abzusetzen. So nach dem Motto: Wir haben ein Theaterabo und die Doofen kucken RTL 2. Ich wünschte mir, Kultur würde als Kommunikationsmittel zwischen allen betrachtet. Das heißt nicht, dass immer alles für alle sein muss. Um manche Kunst zu verstehen, braucht man tatsächlich ein kulturwissenschaftliches Studium. Für andere muss man 10 Jahre Hip Hop gehört haben oder die Sex Pistols kennen. Das ist okay. Aber es gibt tatsächlich auch kluge und unterhaltsame Formen, die einen breiteren Querschnitt der Menschen ansprechen können. Und die suche ich. Nicht zwanghaft und immer. Aber es ist zumindest ein Aspekt meiner Arbeit.

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